BVerfG: Vorratsdatenspeicherung nicht verfassungsgemäß
BVerfG erklärt die Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung für nicht verfassungsgemäß; Meinungen: http://j.mp/cKVbQO
BVerfG erklärt die Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung für nicht verfassungsgemäß; Meinungen: http://j.mp/cKVbQO
Gerrit Eicker 16:00 on 3. March 2010 Permalink |
BVerfG Leitsätze:
“1. Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten durch private Diensteanbieter, wie sie die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 (ABl L 105 vom 13. April 2006, S. 54; im Folgenden: Richtlinie 2006/24/EG) vorsieht, ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar; auf einen etwaigen Vorrang dieser Richtlinie kommt es daher nicht an.
2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer solchen Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs angemessen Rechnung trägt. Erforderlich sind hinreichend anspruchsvolle und normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes.
3. Die Gewährleistung der Datensicherheit sowie die normenklare Begrenzung der Zwecke der möglichen Datenverwendung obliegen als untrennbare Bestandteile der Anordnung der Speicherungsverpflichtung dem Bundesgesetzgeber gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG. Demgegenüber richtet sich die Zuständigkeit für die Schaffung der Abrufregelungen selbst sowie für die Ausgestaltung der Transparenz- und Rechtsschutzbestimmungen nach den jeweiligen Sachkompetenzen.
4. Hinsichtlich der Datensicherheit bedarf es Regelungen, die einen besonders hohen Sicherheitsstandard normenklar und verbindlich vorgeben. Es ist jedenfalls dem Grunde nach gesetzlich sicherzustellen, dass sich dieser an dem Entwicklungsstand der Fachdiskussion orientiert, neue Erkenntnisse und Einsichten fortlaufend aufnimmt und nicht unter dem Vorbehalt einer freien Abwägung mit allgemeinen wirtschaftlichen Gesichtspunkten steht.
5. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten sind nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienen. Im Bereich der Strafverfolgung setzt dies einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste dürfen sie nur bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine gemeine Gefahr zugelassen werden.
6. Eine nur mittelbare Nutzung der Daten zur Erteilung von Auskünften durch die Telekommunikationsdiensteanbieter über die Inhaber von Internetprotokolladressen ist auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten können solche Auskünfte nur in gesetzlich ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt werden.”
FTD: “Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung stößt bei den Kommentatoren auf breite Zustimmung. Sie kritisieren die Politik aufs Schärfste und fordern eine Debatte über die deutsche Gesetzgebung. Die Flickschusterei durch Karlsruhe müsse sofort gestoppt werden.”
Carta dokumentiert das Urteil und die Leitsätze des Bundesverfassungsrichts zur Vorratsdatenspeicherung. (Ergänzt um weitere Stimmen, Pressemitteilungen und Kommentare)
Rieger/FAZ: “Mit dieser Einordnung hat das Gericht einen Kompromiss gefunden, der im Detail viel Kopfweh verursachen wird und in der Praxis wohl auch Effekte haben wird, die der Intention der Richter zuwiderlaufen. Die Diensteanbieter, konfrontiert mit erheblichen Kosten für die an sich sinnvolle massive technische Absicherung der Datenspeicher, werden wohl versuchen, diese durch Outsourcing an Dienstleister zu reduzieren. Von diesen Dienstleistern gibt es nicht viele, nur eine Handvoll hat sich auf derartige Angebote spezialisiert. So werden die Daten der vielen kleinen Anbieter wohl in großen Datenzentren enden, die Idee der dezentralen Speicherung ad absurdum geführt.”
FAZ: “Die klare Entscheidung der Karlsruher Richter zur Vorratsdatenspeicherung ist auf ein geteiltes Echo gestoßen. Während FDP, Linke und Grüne am Dienstag die Entscheidung begrüßten, kamen von Union und Polizei nachdenkliche und zum Teil kritische Stimmen. Die Karlsruher Richter hatten zuvor das Gesetz zur massenhaften Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten für verfassungswidrig erklärt und eine sofortige Löschung der Daten angeordnet.”
SZ: “Das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts befriedigt kurzfristig die Gegner der Vorratsdatenspeicherung und langfristig ihre Befürworter. Was das Karlsruher Gericht will – und was der Gesetzgeber jetzt tun muss. Zehn Punkte.”
Prantl/SZ: “Das Bundesverfassungsgericht hat die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung benannt – aber nur halbherzig Konsequenzen gezogen. Die Richter ordnen an, bisher gespeicherte Daten zu löschen, lassen aber zu, dass in Zukunft umfassend Daten gespeichert werden können. … Wenn die Totalspeicherung der Telekommunikationsdaten auf Vorrat so gefährlich ist, wie es die Verfassungsrichter beschrieben haben – und sie haben recht mit dieser Beschreibung – dann dürfen sie es bei bloßen Warnungen nicht mehr belassen. Der Jubel über das wichtige Urteil des Bundesverfassungsgerichts bleibt einem daher im Halse stecken.”
FR: “Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht tot. Ungeachtet all des Jubels, den das Karlsruher Urteil am Dienstag bei Datenschützern, Netzaktivisten und den vielen Klägern zunächst ausgelöst hat, wirkt der Kern der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seltsam unterbelichtet. – Die höchsten Richter des Landes haben entschieden, dass es durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass alle Bürger einem gewissen Generalverdacht ausgesetzt werden. Die Speicherung aller Verbindungsdaten von Telefon und Internet ohne Anlass verstößt nach Auffassung der Richter nicht gegen die Verfassung. Polizei, Staatsanwälte und unter gewissen Umständen die Nachrichtendienste dürfen auf diese sensiblen Daten zugreifen. – Das Urteil … bricht mit dem Prinzip, dass der Staat seine Bürger nicht ohne Anlass verdächtigen darf.“
Netzpolitik « Wir sprechen Online. 12:40 on 23. November 2010 Permalink |
[…] Forsa: Nur 1/3 der Deutschen bescheinigt Parteien Internetkompetenz. Kein Vertrauen in Netzpolitik; http://eicker.at/Netzpolitik […]